Von der Imagination zur Virtualität - Mediale Vernunft

 

Virtualität löst die Imagination ab. Im Cyberspace entsteht bzw. aktualisiert sich eine virtuelle Gesellschaft, die nicht mehr als Kopie der “wirklichen Wirklichkeit” gelten kann. “Wozu nützt denn die ganze Erfahrung? - Ich will es dir sagen, Leser, sagst du mir, wozu die Wirklichkeit nützt”, provoziert Schiller in den Xenien. Wie stehen Dichtung und Wirklichkeit zueinander? Fällt Dichtung hinter die Wirklichkeit zurück, revirtualisiert unzulänglich in einem Reich der Ideen, was längst unhintergehbare Form geworden ist?

Von Daniel M. Bühlmann

Das Paradox wird entschärft mit dem Wissen, dass jede Wirklichkeit die Summe der Tatsachen ist, die nicht nur im menschlichen Bewusstsein entstehen, sondern auch interpretiert werden müssen, um eine Wahrnehmung dieser Wirklichkeit zu eröffnen. Paul Valéry warnt, “mit zunehmender Annäherung an das Reale verliert man das Wort” (vgl. Cahiers I, 1987, 482). Das imaginäre geriet als voraufklärerisches Moment, als Relikt der Vermischung von Innen- und Außenwelt in Verruf, obwohl immerhin Immanuel Kant die Einbildungskraft zur "reinen Form aller möglichen Erkenntnis" gemacht hat.

Martin Heidegger verwies darauf, dass die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft sich für den reinen Verstand gegen die reine Einbildungskraft entschieden habe, um die Vorherrschaft der Vernunft nicht zu gefährden. Die Vernunft sollte die Welt entzaubern, um zu einer Wirklichkeit jenseits der delirierenden Einfälle einer rauschenden Einbildungskraft vorzudringen.

Von der dichterischen Lobpreisung der Schöpfung bis zur reinen Poesie beobachten wir eine Konkurrenz von Wirklichkeitsbegriffen, die Dichter immer wieder in ihrer Wirklichkeitskonstruktion glaubten, für sich in Anspruch nehmen zu können. Der Dichter ergänzt somit das esse est percipi um eine unhintergehbare Form. Das von der Vernunft verdrängte Imaginäre betritt so immer wieder mit Macht und in neuen Verwandlungen die Szene und behauptet, die Wirklichkeit jenseits eines unreflektierten Realismus zu schöpfen.

Imagination und Vernunft sind in der Dichtung keine diskreten Größen, sondern stellen die Wirklichkeit als das virtuelle Spannungsfeld dar, das sich nicht in vernünftiger Rekonstruktion erschöpft. Wirklich und unwirklich, auch das Unwirkliche ist in der Wirklichkeit des Bewusstseins eine logische Größe, um überhaupt Unterscheidungen in der Wirklichkeit treffen zu können.

Imagination, Fiktion oder Träume können dem Unwirklichen zugerechnet werden, aber in der einzig zugänglichen Wirklichkeit, nämlich der Wirklichkeit des Bewusstseins, sind alle diese Zustände schlecht sortiert und dem vermeintlich Unwirklichen kann eine reale Präsenz erwachsen als den vermeintlich wirklichen Gegenständen der Außenwelt.


Wie stehen jedoch Wirklichkeit und Virtualität in Beziehung?
Unter dem Prinzip des Zweifels vollzieht sich spätestens im 19. Jahrhundert eine kopernikanische Wende, nicht länger dichterischen oder philosophischen Wesensschauen zu vertrauen, sondern die Oberflächen selbst als das offenste Geheimnis dieser Wirklichkeit zu begreifen. Seit Friedrich Nietzsche bewegen wir uns nur noch auf dem Oberflächigen. Es ist die neuzeitliche Orthodoxie, der Schein schiebt sich. Auch wenn diese Oberflächen konstruierbar und manipulierbar sind, stoßen wir immer wieder auf Objekte, die sich diesem Willen nicht beugen.

Die platonische Spannung zwischen Sein und Schein wird wachgehalten, auch wenn wir vorübergehend den Glauben verloren haben, dieses idealistische Sein als unfreiwillige ‹Höhlenbewohner› je begreifen zu können. Doch auf der Ebene der Oberflächen leitet sich ein politisches Programm ab, diese Wirklichkeit zu gestalten, ohne das Wesen dieser Welt verstehen zu müssen. So verstehen wir, wenn Marx das hegelianische Erkenntnisprogramm des absoluten Wissens auf den Kopf stellt und provoziert, dass es nicht darauf ankommt. (...)

































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Erschienen in:

Punktgenau., Nr. 6/2024


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